Von der rebellischen Kraft der Liebe

VAB-Klassen spielen Theater

In der Aula der Gottlieb-Daimler-Schule 2 (GDS) in Sindelfingen feiert ein neues Theaterstück heute seine Premiere. Schüler der Vorbereitungsklassen haben in einer sehr freien „Romeo und Julia“-Inszenierung eigene Träume und  Probleme einfließen lassen und erzählen so eine ganz neue und persönliche Geschichte.
Hier ruft man nicht „Oh Romeo, oh Romeo“, sondern „Hassan, Hassan, dein Einsatz“. Theaterpädagogin und Regisseurin Anke Marx, die gerade die Musik auf dem Gettoblaster anmacht, schaut sich suchend nach Hasan, der noch nicht auf der Bühne steht. „Hassan“ ruft auch Julia-Darstellerin Rama, die ungeduldig auf ihren Schauspiel-Kollegen wartet. Hinter der schwarzen Wand rennt Hassan in seiner gelb-leuchtenden Arbeitsweste hervor. Alle kichern. Hassan lacht ebenfalls, als er bemerkt, dass er die Weste verkehrt herum angezogen hat und dreht sie schnell wieder herum. „Nochmal auf Anfang“, entscheidet Marx, denn jetzt kommt auch der  kichernde Rest der Gruppe mit der Szene durcheinander.
Die erste Intensivprobe am Montagmorgen zeigt, wo sich die Theatergruppe noch verbessern kann. In der Aula der Gottlieb-Daimler-Schule 2 werden Texte, Abläufe und Aussprache geprobt. Es sind nur noch wenige Tage bis zur Premiere. Seit  April wurden in jeweils ein bis zwei Schulstunden die Schüler der Vorbereitungsklassen mit dem Stück vertraut gemacht. Sie sind alle Flüchtlinge, lernen in ihren Kursen Deutsch, machen ihren Hautschulabschluss oder bereiten sich auf eine Ausbildung vor. Viele der 17- bis 20-Jährigen sind aus dem Libanon und Syrien.
Das Stück basiert zwar auf der Tragödie „Romeo und Julia“ von Wiliam Shakespeare, aber die Jugendlichen“ haben auch eigene Probleme, Fragen und Zukunftswünsche mit in das Spiel einfließen lassen“, erklärt Theaterpädagogin Annette von der Mülbe, die gemeinsam mit Anke Marx Regie führt.
Ort des Geschehens ist nicht das italienische Verona des 16.Jahrhunderts, sondern ein kleiner Friseursalon, in dem Rama und ihre Schwestern unter der Leitung des älteren Bruders Mohammed arbeiten. Die Wünsche und Vorstellungen der Mitarbeiter und Kunden werden in Zwischenszenenmit Musikeinlagen und Choreographien dargestellt. So wandelt sich der Salon einmal zur großen Talentbühne, dann zur Autostrecke oder zu einer traditionellen Hochzeitsszene.
Als Rama während ihrer Arbeit auf Hassan trifft, entwickelt sich eine Romanze zwischen den zweien. Aber Hassan ist nur ein Sozialstundenarbeiter, der Müll von den Straßen aufsammelt. Ramas großem Bruder Mohammed gefällt das überhaupt  nicht. Ähnlich dramatisch wie in der Shakespeare-Vorlage entwickelt sich das Stück bis zum Ende, endet aber in einem Happy-End. Zwischendurch trägt der 20-Jährige Usama an den passenden Stellen Passagen aus dem Original vor, um die enge Verwandtschaft zwischen der Geschichte von "Romeo und Julia“ und der von „Hassan und Rama“ zu verdeutlichen.
An einigen Stellen feilen die Regisseurinnen noch. Da heißt es: „Usama, die Hand aus der Hosentasche“ oder Juliana, versuch´ ein bisschen langsamer zu reden.“ Gelegentlich gibt´s auch Selbstkritik – zum Beispiel, als Anke Marx die Musikunterlegung zu spät einschaltet.
Da die Schauspieler erst seit zwei oder drei Jahren Deutsch lernen, wird vor allem bei der Aussprache geholfen. Man kann daher keine hohe Theaterkunst erwarten. „Es ist schon eine Herausforderung, für die Schüler auf der Bühne deutsch zu reden, aber wir verarbeiten so, dass es für alle passt. Strenge Textvorgaben gibt es deswegen nicht. Es muss nicht alles eins zu eins aufgesagt werden“, erklärt von der Mülbe.
Rama träumt in ihrer Rolle als Julia wie auch im echten Leben davon, einmal  Ingenieurin zu werden. Sie will in ihrem Heimatland kaputte Brücken wieder aufbauen. Sie kam mit ihrer Mutter und zwei Schwestern vor zwei  Jahren nach Deutschland, ihr Vater ist noch in Syrien. „Ich habe schon Theaterstücke gesehen, aber in einem mitzuwirken, ist neu. Obwohl es schwer ist, sich den Text zu merken, macht es viel Spaß“, erzählt die 18-Jährige nach der Probe. In ihrer Rolle geht sie täglich zur Universität, was ihrem Bruder Mohammed missfällt. „Warum sollen Frauen nicht das tun, was sie möchten? Was Männer können, können wir auch“, sagt sie zu der Problematik, dass vielen syrischen Frauen gepredigt wird, daheim zu bleiben und nicht zu studieren oder Geld zu verdienen.

Syrische Schülerin hinterfragt Geschlechterrollen in ihrer Heimat

Big Brother Mohammed lässt in seiner Rolle den klischeehaften Proll raus. Mit dem Lied „Bobby Brown goes down“ von Frank Zappa – eine Satire auf selbstverliebte und frauenverachtende Jungs. Er kommandiert die weiblichen Angestellten herum und verliert die Fassung, als diese den Führererschein erhalten. „Jetzt dürfen Frauen auch schon Autofahren?“, ruft er entsetzt, aber die Mädchen – cool mit Kopftuch und Sonnenbrille – cruisen fröhlich umher und freuen sich über ein Stück Unabhängigkeit.
Mohammed bereitet sich zur Zeit auf ein Vorbereitungsjahr für die Netze BW vor. Bühnenerfahrung hat er bereits mit dem integrativen Sindelfinger Theaterensemble Club Esperanto gesammelt. Bei der Inszenierung „Killing Kismet“ durfte er für einen ausgefallenen Schauspieler einspringen.“ Besonders gut sieht man, wenn ich im Laden arbeite: Ich bin böse und gemein als großer Bruder, aber zu den Kunden lieb. Weil sie zahlen“, erklärt er seine Rolle.
Für eine Zwischenszene überlegte sich die Gruppe, wie sich ein großer Bruder verhalten soll. Sie stellen kurze Dialoge nach, in denen der große Bruder bei den Hausaufgaben hilft, der Schwester Fahrradfahren beibringt und sogar die Schuld für einen Autounfall auf sich nimmt. Für einander da sein und bei Problemen helfen – das wünschen sich die Mädchen von ihren älteren Geschwistern. „Wir haben versucht, die Themen, mit denen sich die Schüler beschäftigen für das Stück umzusetzen“, erklärt Annette von der Mülbe.
Auch Freundschaft spielt in dem Stück eine große Rolle. Ramas Freundin Juliana unterstützt sie in allen Fällen, auch um ein heimliches Treffen zwischen den Verliebten zu organisieren. „Wir können träumen, wenn wir wollen“ ist sich Rama sicher und Juliana hilft ihrer Freundin dabei, ihre Träume wahr wahrwerden zu lassen. Juliana kommt aus Rumänien, hat aber auch in Spanien gelebt. In beiden Ländern hat sie erste Theatererfahrungen sammeln können, die sie jetzt in diesem Stück mit einbringt.
Jemanden zu lieben, den man nicht lieben darf, gegen die starren Vorgaben und Wünsche der Familie zu rebellieren und sich in einer ganz anderen Welt zurecht zu finden – egal, aus welchem Zeitalter oder Land sie stammen. Genau darum geht es in dieser Inszenierung.

 
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